Otto  Falcken-
berg 
Schule 

Ermitage [Drafts]

22.07.2020 /

Szenische Installation von Lennart Boyd Schürmann

Vorstellungen am 22. Juli 2020 um 19 und 21 Uhr im Lothringer 13
Mit Joscha Baltha (Ernst Jünger), Antoine Caxape (Xavier de Maistre), Elena Wolff (Guillaume Dustan) und Nick Romeo Reimann (Secretarius/Serviteur/Slave) Regie/Konzept Lennart Boyd Schürmann Dramaturgie Moritz Nebenführ Bühne Achinoam Alon Original Music Christian Naujoks Maske Lilo Lucia Meyer

Zu 42-tägiger Quarantäne verurteilt, beginnt Xavier de Maistre 1790 mit seiner Voyage autour de ma chambre. Die Begrenzung seiner physischen Bewegungsfreiheit und die damit gewonnenen zeitlichen Ressourcen nutzt er für kontemplative Expeditionen in die Weiten seiner Seele, während unweit seines behaglichen Interieurs die französischen Revolutionäre an der Abschaffung jeder privaten Innerlichkeit arbeiten. Zurückgezogen in Savoyen, wiederum in privilegierter Umgebung, publiziert er 1794 seine voyages, die das Genre der ‘Zimmerreiseliteratur’ begründen.

Der Erfolg des Genres und seiner Varianten dürfte nicht zuletzt in der therapeutischen Funktion bestehen, die Unvollkommenheiten der Welt durch simulierte Erfahrungsfülle literarisch zu kompensieren. Eine Beteiligung an dem Projekt einer materiellen Transformation der Welt würde die schmerzhafte Preisgabe und Relativierung der Fiktion absoluter Autonomie erfordern. Demgegenüber konnte das bürgerliche Subjekt mittels der sentimentalen Erkundung der eigenen vier Wände sich jener wenigstens im Privaten vergewissern. Literarische Experimente mit den Kleinoden der Nahwelt versprechen eine luxurierende Begegnung mit den radikalen Möglichkeiten menschlicher Freiheit, ohne mit der risikoreichen Drastik und dem Gewaltpotential, das ihre Verwirklichung jenseits der privaten Umgebung begleitet, umgehen zu müssen.

ERMITAGE bearbeitet in einer szenischen Installation drei Varianten dieses Genres als Experimentierfeld eines ‘Sozialismus der Distanzen’. Dabei wird die temporäre Gemeinschaft dreier Text-Körper erkundet, die radikal verschiedene Wege wählen, um sich der Phantasie individueller Souveränität zimmerreisend zu vergewissern. Den Texten – De Maistres Voyage, Guillaume Dustans erotische Autofiktion Dans ma chambre (1996) und Ernst Jüngers Essay Der Waldgang (1951) – ist das performative Paradox gemeinsam, ihrem antimodernen Impuls öffentlich, für ein (lesendes) Publikum nachzugehen. Indem ihre Beziehungsweisen nicht durch den Wunsch nach Identität, sondern durch den nach Differenz charakterisiert sind, können sie als Modell einer vielstimmigen politischen Praxis fruchtbar gemacht werden. Dabei wäre Vereinzelung nicht etwas Gegebenes, sondern paradoxes Begehren und fragile Möglichkeit einer dynamischen Gemeinschaft Vieler.